Sonntag, 18. Januar 2015

Koran-Experiment

Die Tage seit dem Anschlag von Paris waren ja recht ereignisvoll.

Vor allem wenn man die Reaktionen der Weltöffentlichkeit auf den Anschlag auf "Charlie Hebdo" vergleicht mit dem Massaker von Boko Haram in Nigeria. Der "Bodycount" beider Anschläge ist diametral entgegengesetzt zum Interesse des Westens. Self-self-self-self-self.

Wie dem auch sei, die Verlierer beider (und anderer Anschläge) sind die Muslime (auch das ist dem selbstverliebten, sich in Selbstüberschätzung wiegenden Westen natürlich nicht aufgefallen).

In Paris wurden dutzende von Moscheen mit Brandbomben, Granaten und blutigen Schweineköpfen (!) beworfen. Muslime in Frankreich und überall in der Welt gehen noch härteren Zeiten entgegen.

Die vermeintliche Bedrohung der Redefreiheit scheint uns im Westen aber mehr zu beschäftigen. Vor allem natürlich unserer Redefreiheit (der umstrittene, da zum Islam konvertierte und antisemitische französische Komiker "Dieudonné" wurde erstmal festgenommen, als er auf seiner Facebook-Seite dem derzeit üblichen "Je suis Charlie" den Nachnamen eines der Attentäter anhing).

Was ich mich die ganze Zeit bei der Debatte fragte ist aber vor allem: mag ja sein dass man das Recht haben muss, Religionen und Ansichten anderer zu karikieren.

Ich muss aber auch sagen, dass ich, würde ich in Paris leben und die Attacken auf Charlie Hebdo hätten nie stattgefunden, wohl eher nie ein Leser dieser Zeitschrift geworden wäre - zu krude, schmuddelig und verachtend-beleidigend waren viele der "Cartoons" dieser Zeitschrift. Nun ist ein Mangel an intellektueller Finesse ja noch kein Verbrechen, und wenn ich auch langsame Autofahrer und Anhänger von "Pegida" grundsätzlich am liebsten standrechtlich erschiessen lassen würde, so bin ich mir natürlich bewusst, dass umbringen von Karikaturisten nicht angebracht ist (einzige Ausnahe: wenn es im Rahmen von Performance-Kunst-Installationen passiert, vermute ich mal).

[Muss ich jetzt betonen dass obiger Paragraph sarkastisch gemeint war? Also quasi ein Test der Rede- und Schreibfreiheit eines jeden Menschen?]

Was mich neben dem ganzen Getöte am meisten betrübt ist, dass wir derzeit immer weiter weg kommen von einer Einstellung, die ich noch in den 90er-Jahren für gesellschaftlichen Konsens gehalten hatte: nämlich dass man "Toleranz" als ethische Tugend "sui generis" sieht; dass Gespräche über Religion zu vermeiden seien (man weiss nämlich nie, wen man u.U. entrüsten oder beleidigen könnte), also ganz allgemein dass man seine Religiosität für sich behält und die der anderen toleriert und respektiert.

Diese Art eines "gentlemen agreement" scheint im Zeitalter von Internet-Trollen und fröhlich-frechem "rum-ge-tweete" abgeschafft worden zu sein.

Wer sich beleidigt oder getroffen fühlt, hat kein Mitleid oder Verstädnis zu erwarten, sondern macht sich eher des Integrismus verdächtig.

Aber ich verliere den Faden - um an die Angriffe auf Moscheen und Muslime in Frankreich anzuknüpfen: Muslime in Europa gehen Zeiten entgegen, die den 1930er-Jahren für Juden in Deutschland immer mehr ähneln dürften. "Kauft nicht bei Moslems" ist in Frankreich bereits im Zuge, salonfähig zu werden. Gewalt gegen muslimische Geschäfte war in den letzten Tagen an der Tagesordnung, und mich beschleicht das Gefühl, dass man als Muslim in Europa von nun an mehr als nur verhaltenen Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt sein wird.

Nun heisse ich zwar "Hakim" und habe algerisches "Erbe", was aber niemand ahnt der mich zum ersten Mal trifft ist, dass ich mit Islam bislang kaum etwas am Hut hatte. Das islamischste an mir ist mein Name. Erzogen wurde ich christlich, so richtig ordentlich mit Sonntagsschule und dreimal in der Woche Kirchgang (oh ja). Meine gesamte mütterliche Familie ist nämlich Neuapostolisch und in dem Glauben wurde ich erzogen, konfirmiert und schließlich auch entfremdet - mit 17 habe ich die Kirche verlassen.

Muslimische Cousins, Onkel und Tanten habe ich in Algerien und Frankreich, aber ich hatte mit dieser Seite der Familie kaum Kontakt, und von der Religion der Hälfte meiner Familie weiss ich kaum mehr als Otto Normalverbraucher (und dass obwohl der Ur-ahn meiner algerischen Familie ein regionaler Heiliger ist, der angeblich vom Propheten selbst abstammt).

Was mich nach den Medienberichten der letzten Tage und Wochen nun umtreibt ist: wie tolerant ist Europa nun gegenüber seinen Muslimen?

Deshalb habe ich mir dieses Wochenende bei Amazon eine englische Übersetzung des Koran bestellt (http://www.amazon.co.uk/gp/product/019957071X?psc=1&redirect=true&ref_=oh_aui_detailpage_o00_s00), so richtig schön in Hardcover und Fettdruck auf dem Umschlagsdeckel.

Sobald das Buch eintrifft, werde ich es lesen - allerdings nur in öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen Locations.

Da ich täglich mit der Bahn zur Arbeit fahre, natürlich vorwiegend dort. Und zwar mit einer ganz bestimmten Absicht: die Reaktionen der Menschen um mich herum interessieren mich hierbei mehr als der Inhalt des Buches.

Ich werde jeden Tag einen Blogpost zum Thema schreiben - also jeden Tag, an dem es bestimmte Reaktionen auf meine Lektüre zu verzeichnen gibt! Ich bin schon gespannt, ob ich überhaupt etwas erleben werde (immerhin lebe ich in Dublin, und die Iren sind im Vergleich zu den pegidastrammen Deutschen sehr locker wenn es um die Ansichten ihrer Mitmenschen geht).

Auf jeden Fall: möge das Experiment beginnen!

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